Bin schon um halb Acht auf der Piste. Es ist noch finster. Hänge mich an das Ehepaar Chantalle und Jacques aus Kanada. Die werden schon mehr Erfahrung mit dem Pilgern im Dunkeln gemacht haben, denke ich mir. Will mich ja schliesslich nicht verlaufen.
Die beiden sind zum ersten mal in Europa, und dann gleich auf diese Weise. Interessant. Nach etwa einer Stunde verabschiede ich mich von den beiden und nehme meine Standardreisegeschwindigkeit wieder auf.
Fantastische, märchenhafte Stimmung heute Morgen. Strohballen, die gespenstisch aus dem Nichts auftauchen. André und Antoni, die beiden Polen, holen mich ein. Dachte mir schon, dass die beiden auch flott sind, haben etwa mein Tempo.
Bei jedem meiner Fotostopps (und deren gibt es viele) rücken sie ein Stück näher. Bis in den Nachmittag hinein spielen wir Katz und Maus, dann verliere ich sie aus den Augen.
Ab etwa halb Zehn kommt die Sonne durch. Es wird ein sonniger Tag.
In Hornillos del Camino versorge ich mich in einem kleinen Laden am Weg mit Proviant. Sympatischer und äusserst netter Verkäufer. Wir unterhalten uns. Gibt mir zum Abschied einen Flyer mit. Das Hotel in Finisterre würde sein Cousin betreiben. Ich soll einen schönen Gruss von Jesus aus Hornillos ausrichten, das gäbe Sonderkonditionen. Wir werden sehen.
Einige Meter weiter sehe ich Tylor aus Oregon auf einer Bank sitzen und ein Bocadillo verspeisen. Ein junger Schäferhund hockt vor ihr und stiert sehnsüchtig auf das Wurstbrot. Tylor, die auf die 60 zugeht, ist verdammt schnell.
Wir gehen zusammen weiter, getreu des Mottos "A good companion makes miles shorter." Das hatten wir schon mal, Ihr erinnert Euch? In Hontanas führt der Camino an einem schön gelegenen und atmosphärisch angenehmen Hostal mit angeschlossener Bar vorbei.
Zig Pilger (und ein Kätzchen) haben sich zu einer ersten (zweiten?) Rast eingefunden. Die Sonne lädt zur Einkehr. Wir tun es ihnen gleich. Ich lade Tylor auf einen Kaffee ein. Eine junge deutsche Frau schmeisst den Laden ("habe letztes Jahr den camino gemacht und bin zurückgekommen"). 10 km weiter, in Castrojeriz, revanchiert sich Tylor mit einem Radler (meine Empfehlung, das Getränk kannte sie bisher nicht).
Castrojeriz ist ein schnuckliger Ort mit vielen Kirchen und einer Ruine, die hoch oben auf einem Hügel über dem Ort thront. Tylor macht hier Etappe - ich muss weiter. Die Frau ist eine skurile Type. Mit 50 habe sie ihr Leben grundlegend verändert, habe damals gedacht "When I got so old, I can do anything". Sie beschliesst das zu tun, was ihr Leben ist: Wandern, Trekken, Hiken, wie immer man es nennen will. Beginnt Kurse zum Thema "Hiken" zu geben (Technik, etc.) und organisiert später Trekkingreisen in den Staaten, in Europa und sonst wo (England, Italien, Marokko, nächstes Jahr Deutschland). Unter walk-with-me.com kann man sich ansehen, was sie so vorhat. Klasse. Sie macht das alles allein, hat keine Partner vor Ort. Schaut sich die geplante Tour im Vorfeld an. That`s it. Da kommt es schon mal vor, dass es nicht glatt läuft. Z.B. neulich in Italien. Sie wusste nicht mehr weiter, brütete über den Karten, während ihre Schützlinge stolz erzählten, wie schön die Blumen doch seien. Mitteilen konnte sie ihr Problem freilich nicht. Sie schaut mich an und meint lakonisch: "Or should I tell them, we all gonna die?" Und lacht dabei wie Weiland J.R. Hewing "Ha, ha, ha" tief aus der Brust. Die Frau hat Humor. Sie stammt aus einer Bauersfamilie, wuchs mit 6 Geschwistern in Wyoming auf. Da kam schon in der Kindheit keine Langeweile auf. Die Kinder mussten mit anpacken. Eines Tages habe sie ihr Vater gefragt, ob sie nur in der Küche oder auch auf dem Feld aushelfen wolle. Sie entschied sich für letzteres. Pferde, Traktoren, Kühe - eine Zeitlang ihre Welt. Kennt sogar die Marke des Traktors, der drüben im Feld geparkt ist. Die Landschaft, durch die wir heute gehen, würde sie sehr an ihre Heimat erinnern. Meine Frage nach der Versicherung für ihr Business beantwortet sie wieder in ihrer lakonischen Art: "Weder ich, noch meine Kunden sind versichert. Die müssen sie sich selber drum kümmern." Und sie fügt an: "They can sue me. Not a problem for me. You cannot squeeze blood out of a turnip." Ich sag ja, die Frau hat Humor. Von ihr erfahre ich, dass man auch in der Neuen Welt Verrücktes tun kann, z.B. den Pacific Crest Trail (@Norbert: schon mal davon gehört?). In Mexiko beginnend, Tausende von Meilen überwiegend schön den Kamm diverser Bergketten entlang, unter erheblichem logistischen Aufwand (Lebensmittel an einen Ort schicken und so), Grizzlys und andere nette Bewohner auf dem Weg, Hunderte von Meilen ohne auch nur eine Menschenseele zu treffen, und, und, und, bis nach Alaska.
Eines weiss ich. Das muss ich nicht haben. Nothing for me. Und noch eines weiss ich. Auf dem Gipfel des Mount Everest werde ich niemals stehen, aber im Basecamp und zum höchsten Punkt der Erde hoch schauen. Das ist nämlich kein grosses Ding. Matthias (aus Bochum) hat das schon gemacht und mir wärmstens empfohlen. Aber ich schweife ab, zurück auf den camino.
Nach dem Radler sage ich Tschüs. Es ist etwa vier Uhr, brütende Hitze in Castrojeriz. Kein Lüftchen. 4 km steigt der Weg zu einer Anhöhe hinauf.
Von hier aus schöner Ausblick in die Meseta. Ein Fleckenteppich von Getreidefeldern, Äckern in verschiedenen Brauntönen, eingebettet in eine überdimensionale Rinne, die noch etwas aufgebogen wurd, breitet sich vor mir aus.
Ich schreie vor Freude, bin glücklich. Als etwas später ein Schmetterlingspärchen, der eine dottergelb, der andere in tiefem Meeresblau meinen Weg kreuzen, wird mir ein weiteres, wenn auch nur sekundenlanges Glücksmoment geschenkt. Rast und Fusskühlung an der Quelle "Fuente el Royo". Anschliessend ziehe ich die letzten 10 km nach "Boadilla del Camino" durch.
Um halb Acht komme ich an der Herberge "En el camino" an. Sehr freundlicher Empfang von Eduardo (lebt in Argentinien und arbeitet jeweils in der Sommersaison in Spanien bzw. in seiner Heimat, kennt sozusagen keinen Winter - und keinen Urlaub?).
Einzelzimmer, Dusche, Abendessen (Linsensuppe - sehr lecker!! - Fisch). Das Essen nehme ich an der Stirnseite einer langen Tafel in illustrer Gesellschaft ein. Zu meiner rechten Lulu, Franzose, um die 60, ist vor 2900 km in Athen aufgebrochen und über Bulgarien, Rumänien, Slowenien, Italien und Frankreich schliesslich nach Spanien gelangt. Der Typ wandert/pilgert im Sommer und arbeitet im Winter als Busfahrer im Skizirkus, hat kein zuhause, lebt, wie er sagt, im Zelt. Links neben mir Gale, ebenfalls aus Frankreich, um die 30, dann Anja, Studentin aus Deutschland und deren Freundin Stefanie, ebenfalls Studentin aus dem Elsass, derzeit in Saarbrücken studierend. Und am Ende sitzen da noch einige Italiener und ein Brasilianer, von denen ich allerdings nicht allzuviel mitbekomme.
3 Kommentare:
Von ihr erfahre ich, dass man auch in der Neuen Welt Verrücktes tun kann, z.B. den Pacific Crest Trail (@Norbert: schon mal davon gehört?). In Mexiko beginnend,...
Hey Peter, ja den PCT kenne ich, bin auch schon ein Stueck davon gelaufen. Habe auch ultralaufende Kollegen, die das Ding schon am Stueck gemacht haben...echt Wahnsinn!
Zu deinem "Lauf": Du bist ja ganz schoen weit - einfach unfassbar fuer mich. Du machst auch Ultras (50km) an bestimmten Tag...
Jetzt bist du ja bald da - viel Glueck auf dem Rest des Weges...
Your friends are watching you...
Norbert
Lieber Peter,
wahrscheinlich erinnerst du dich gar nicht an mich, aber weil du deine Erfahrungen mit allen teilst finde ich es nur fair wenn auch die "heimlichen" Leser mal eine kleine Rückmeldung geben...
Hab den Blog über Uwes NLP Blog entdeckt und hin und wieder sporadisch mal gelesen. Finde deine Geschichten und dein Vorankommen immer spannender. Wahnsinn wie du das machst und vor allem wie du auch immer noch die Zeit und Lust findest alles zu schreiben! Toll! Noch viel Spass auf den letzten Kilometern!
Gruß, Ulla
P.S. Schade, dass schon lange keine Fotos mehr zu sehen waren ... :-)
Hallo Peter,
ein - wie ich persönlich finde - ein besonders schöner Abschnitt, der Weg zum Cruz de Ferro mit all dem weißen und gelben Ginster (blüht er eigentlich noch, vor allem: duftet er noch so wahnsinnig?) und die lilafarbenen Hügel runterwärts, ach, schön!!
Aber vermutlich bist Du ja schon längst über Ponferrada hinaus Richtung Villafranca del Bierzo und Galizien unterwegs!!
Ich geb der Ulla (liebe Grüße an Dich, Ulla!) recht, mal ein Foto wäre wunderbar...
Buen camino - Santiago rückt ja immer näher!
Thea
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