Mehrmals hat mich heute Nacht Mietze Charlotte besucht. So eng hat sie sich an mich geschmiegt, dass ich immer aufgewacht bin. Das erste was ich nach dem aufwachen tue, ist meine Schuhe zu checken, das feuchte Zeitungspapier gegen trockenes auszutauschen. Leicht feucht sind sie nämlich auch heute Morgen noch.
Nach dem Frühstück (reichlich!) hält Colonel Luis Audienz. Wie ein Winkeladvokat nimmt er hinter dem ebenfalls im grossen Gemeinschaftsraum stehenden Schreibtisch Platz. Stempelsprechstunde. Ein Pilger nach dem anderen darf das Pilgerbuch vorlegen, Luis setzt den Stempel und einen Hinweis auf Lucas 24 in das Buch (muss ich bei Gelegenheit mal nachlesen).
Anschliessend gehen wir geschlossen hinunter zur ebenfalls ins Haus integrierten Kapelle. Jeder Pilger darf eine Kerze anzünden, seinen Gedanken Ausdruck verleihen. Die beiden Frauen singen ein Lied. Ein schöner Moment. Abschiedsfoto vor der Kapelle (die Kamera will wieder), Willi und Ralf, die schon vor dem Kapellbesuch mit den Hufen scharrten, machen sich auf den Weg.
Man muss sich Luis' Anwesen als ein grosses, in den Hang gebautes Landhaus mit mindestens drei Stockwerken vorstellen, das an allen Enden ausfranzt, will heissen Baustelle ist.
In 2 Jahren will der Mitfünfziger mit dem Anbau fertig sein. Dann wird er aufhören Schulbus zu fahren und nur noch Pilger- und Herbergsvater sein. So der Plan.
Nach dem Kapellbesuch packe ich meine Sachen und mache mich fertig. Ein letztes Mal hinüber in den Gemeinschaftssaal, durch dessen zimmerbreite Fensterfront man in die bewaldeten Hügel und ins Tal blickt. Die Sonne scheint, die Nacht hat den Regen vertrieben. Herrlich. Ich fühle mich fantastisch - Sonne, ich liebe dich! Die Welt liegt mir zu Füssen, will raus, will auf die Piste.
In flotten einundeinhalb Stunden bin ich hinunter nach Saint-Genix-sur-Guiers gewandert. Provianteinkauf und Käffchen mit Willi und Ralf, die ich in dem Ort eingeholt habe. Hier überschreitet man die Departementgrenze, man verlässt Savoyen und betritt Isere.
Sofort ändert sich das Dorfbild. Die Bauernhäuser sind aus Lehm, genauer aus Lehmplatten gebaut, wirken einfach, schmucklos. So mein erster Eindruck.
Auf der Nachmittagsetappe begegnet mir Jeanine aus Solothurn in der Schweiz. Bevor ich irgendetwas sagen kann, fragt sie schon: "Bist du der Peter?" Willi und Ralf haben ihr von mir erzählt. Angeblich sei ich so ein Aussteiger ... Radio Camino eben. Jeanine hat Wohnung, Arbeit und Freund gekündigt, will ein neues Leben anfangen. So viel sie zuhause losgelassen hat, ihr Rucksack scheint mir noch 'ne ganze Menge zu enthalten. Jeanine macht auf dem Campingplatz von "Le Veron" Etappe, ich ziehe weiter. Heute herrscht optimales Wanderwetter, nicht zu heiss, trocken, oft sonnig. Wenn ich so wandere, kommen mir oft Lieder in den Sinn, die ich denke, singe oder pfeife. Leider ist es mit meiner Textsicherheit nicht weit her. Heute z.B. die Papagenoarien aus der Zauberflöte, "La donne e nobile" aus dem Rigoletto, "Porque te vas" und einige Beatels-Songs. So gerate ich bisweilen in eine Art Trance und muss aufpassen, die Markierung nicht zu verlieren. Das geschieht mittlerweile schon auch unbewusst. Unbewusste Wahrnehmung, ein Teil unserer Interaktion mit der Aussenwelt, das hat mich meine Pilgerschaft schon einige Male gelehrt. Es scheint einen Mechanismus zu geben, der dafür sorgt, dass das Unterbewusstsein manchmal dem Bewusstsein meldet: aufwachen, wahrnehmen! Und wir denken, na so ein Zufall, gerade habe ich an die Beeren, an die Person gedacht, etc. und - da sind sie! So z.B. als ich nach St. Genix einlaufe und mich frage, ob's in dem Ort wohl Internet geben wird. Nahezu im selben Moment fällt mir ein Schild mit der Aufschrift "INTERmarche" auf. So ein Zufall! Nein, mittlerweile glaube ich, ich habe das Schild schon vorher unbewusst wahrgenommen und danach kam mir der Gedanke. Ja, wir nehmen unbewusst wahr, viel mehr als wir ahnen. Doch ich komme ins Schwafeln ...
Mein heutiges Ziel: Le Pin. Da ich am Ortseingang nicht so recht weiss, wie es zum chambres d'hotes von Christine weitergeht, frage ich drei Jungs, die an der Ecke spielen. Sie sind begeistert ihr Englisch auf die Prüfung stellen zu können und begleiten mich mit Freude bis zum Hauseingang.
Christine, Pascal und ihre drei Kinder bewohnen ein hübsches, etwa 150 Jahre altes Landhaus. 2 Zimmer vermieten sie an Pilger. Ich beziehe ein mit viel Liebe zum Detail gestaltetes Zimmer, mache mich frisch und esse mit den beiden zu Abend. Als Gute-Nacht-Trunk bietet mir Pascal einen von Mönchen produzierten Kräuterlikör an, einen Chartreuse, aus der gleichnamigen Region. Na da sage ich doch nicht nein. Hochprozentig und gut.
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